Wir haben in Europa quer durch das 20. Jahrhundert mehrfach die Erfahrung gemacht, daß die Brutalisierung einer ganzen Gesellschaft bestürzend schnell zu organisieren ist. (Derzeit können wir das im arabischen Raum beobachten.)
Die Zeit meiner Eltern betreffend sind mir die penibel geführten Tagebücher von Victor Klemperer ein stellenweise schockierendes Zeugnis solcher Entwicklungen. Was die jüngsten Balkankriege angeht, haben wir jede Gelegenheit, Menschen zu treffen, die das erlitten, aber auch jene, die das verursacht haben.
Wer von uns hätte keine Möglichkeit gefunden, von Menschen aus dem Raum Sarajevo zu erfahren, was dort so irritierte? Vielfach wurde erzählt und bezeugt, daß bosniakische, kroatische und serbische Leute noch kurz vor Ausbruch der Gewalt überzeugt waren, dies werde nicht geschehen, denn man lebe seit Jahrzehnten in guter Nachbarschaft. Doch dann ist es geschehen.
Der Historiker Karl Kaser zeigt uns in „Freundschaft und Feindschaft auf dem Balkan“ [link] exemplarisch, wie einerseits beides, Freundschaft und Feindschaft, sich gegenseitig bedingt, wie andrerseits die Kenntnis mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen einem nützen kann, bei neuralgischen Punkten auf der Hut zu sein.
Das sind ja keineswegs bloß Eigenheiten südslawischer Gemeinschaften, wir kennen unsere Varianten in der Kultivierung von Feindbildern in Österreich genauso. Damit will ich vor allem ausdrücken: Wir sind gewarnt!
Die Wirkmächtigkeit von Feindbildern kann schlagartig in neue Höhen befördert werden. Es sind allerhand Verfahrensweisen wohlbekannt, durch die man Gemeinschaften dazu bewegt, die „Normalität“ Pause machen zu lassen. Die Brutalisierung einer ganzen Gesellschaft kann geradezu blitzschnell organisiert werden.
Damit sollte völlig klar sein, daß wir gefordert sind, auf kultureller, auf symbolischer Ebene energisch darüber zu wachen, daß Menschenverachtung keinen ausreichenden Raum bekommt; schon gar nicht, wo sie über die heutige Mediensituation rapide eine Massenbasis erreichen kann.
Ich habe es in unseren Projekten immer wieder betont: Jedem Massaker geht ein Krieg der Worte voraus. Das ist eine der wesentlichen Lektionen aus dem 20 Jahrhundert. Wo also auf kultureller Ebene die symbolische Hinrichtung von Menschen gespielt werden darf, führen sehr kurze Wege zu physischen Exekutionen. Wo Gewalt im Privatleben toleriert wird, hat die Staatsgewalt Steigbügelhalter für das Reüssieren der Tyrannis.
Diese Bereiche erlauben keine Konzessionen. Vor allem, weil praktische Erfahrung wenig Zweifel läßt, daß Gewaltausübung eine fatale Verwandtschaft mit Drogenkonsum hat. Das Demütigen und Mißhandeln von Menschen kann sich mit quasi Suchtcharakter ausstatten.
Wenn dann auch noch ethische und psychologische Hemmschwellen abgesenkt werden, sind die ersten Toten nicht mehr weit.
In diesen Zusammenhängen liegen gute Gründe, daß wir uns mit den trivialen Mythen zu befassen haben, mit etlichen Merkwürdigkeiten der Massenkultur, mit Fragen der Ästhetisierung von Gewalt und der alltäglichen Inszenierung quasi-faschistischer Rollenbilder.
Im hartgesottenen Geschwindigkeits-Junkie, der sich aufs Zuschlagen ebenso versteht wie aufs Kurvenkratzen mit Equipments von 300 PS aufwärts, weilt ein Typus des „zivilen Kriegers“ unter uns, der die Tradition des „soldatischen Mannes“ aus dem späten 19. Jahrhundert fortschreibt.
Das ist gleichermaßen Personal für Schlachtfelder wie für eine marodierende Soldateska, die sich an der Zivilbevölkerung vergeht. Wie hier angedeutet: Ee ist eine primär kulturelle Konstruktion, bis die Waffen ausgeteilt werden.
+) Kuratorium für triviale Mythen [link]
+) The Track: Axiom | Südost [link]
+) Die „Fünfer-Nacht“ [link]