Ich habe im vorigen Eintrag [link] eine „Quest“ erwähnt. Der Begriff kommt mehrdeutig zur Wirkung. Was er insgesamt faßt, zieht sich quer durch unsere Kulturgeschichte und hat heutige Entsprechungen in der trivialen Massenkultur.
Die Heldenreise, die Suche, die Mission, das unbestimmte Ziel, natürlich Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen… Wir haben das Motiv schon einmal auf einer Reise behandelt. Bei unserem „Symposion im fahrenden Zug“ referierte Philosoph Stefan Lutschinger das Thema: [link]
Die zwei für uns interessanten Grundmuster: Der Held geht auf Fahrt und wenn er zurückkommt, ist er gleich geblieben, doch die Welt hat sich verändert; wahlweise hat sich der Held verändert, aber die Welt ist gleich geblieben.
Wenn wir das Zeitfenster 2014 bis 2019 ins Auge fassen, dann können wir derzeit nicht wissen, auf welchen Wegen wir zu welchen Ergebnissen und Erfahrungen finden werden.
Radivoj „Rasa“ Doderovic, Literaturwissenschafter an der Matica Srpska [link], führte mich in einem Abschnitt unserer Debatten etwas aufs Eis. Wir waren bei der Frage von Außenbezügen angelangt und bei meinem Bekenntnis, daß ich als Künstler mit Publikum recht wenig anzufangen weiß.
Wir wissen um die wohlige Erfahrung, vor 30 oder vor 300 Leuten zu stehen, die einem ihre Aufmerksamkeit schenken. Das ist angenehm und prickelnd, das geht der eigenen Eitelkeit wie Öl hinunter, das ist alles recht und schön, aber… Es ist gewöhnlich ohne Einfluß auf mein Leben. Impact. Nachhaltige Wirkung. Nein, leider, das stellt sich nicht ein.
Gut, wäre ich Pablo Neruda, auf einer Bühne, tausend Arbeiterinnen und Arbeiter wollten meinen Gedichten lauschen, müßte ich anders darüber denken. Aber so habe ich von Wirkungen ganz unterschiedlicher Art zu reden, von Diskursen und Korrespondenzen, von der Arbeit an Themen, vom Austausch mit Menschen, die an eben den Fragen arbeiten, die mich beschäftigen.
„Ist das nicht sehr egoistisch?“ sagte Rasa. Sein ironisches Lächeln habe ich dabei nicht bemerkt. Ich stutzte kurz. „Das Ringen um Gnosis ist egoistisch? I don’t think so.“ Rasa lachte. „Ich bin deiner Meinung.“
Es scheint mir, als sei in Serbien der Optimismus derzeit Mangelware und das Kämpfen um Zuversicht fiele den Menschen hier momentan schwerer als vor wenigen Jahren.
Was immer die internen Probleme sein mögen, als Gast, Reisender, kurzfristiger Besucher sehe ich von außen auf all das und es fällt mir auf: Nun ist der Balkan offenbar die Art Kolonie der nördlichen Staaten geworden, um die sich ehrbare Leute seit dem Berliner Kongress bemüht haben.
Daß die südslawischen Völker einander Feind sind, müssen sie mit sich ausmachen und selbst lösen. Aber dieses Kolonisierungsunternehmen werden wir in Europa noch teuer bezahlen, falls wir das nicht in Ordnung bringen.
Der Balkan ist politisch zerrüttet, wirtschaftlich vom Norden abhängig. Ein brutaler Ausverkauf der interessanten Betriebe hat längst stattgefunden, allerdings nicht zum Vorteil der Völker. Die Mittelschicht ist auf Grund gelaufen, reiche Eliten haben es immer noch nicht nötig, ihre Korruption wenigstens zu verstecken.
Die Arbeitskräfte und Bodenschätze des Balkans werden wir bei Bedarf billig kriegen, ihre gut ausgebildeten Leute haben wir schon. Warum Rußland nun gerade die „serbischen Brüder“ wiederentdeckt und Amerika im Kosovo sein Camp Bondsteel bis heute nicht geräumt hat, dürfte da wie dort mehr mit den Bodenschätzen und Transport-Routen zu tun haben denn mit Philantropie.
Aber ich schweife ab. Wenige Jahre nach dem Berliner Kongress hat ein österreichischer Aristokrat es Machiavelli gleich getan und seinem Fürsten einen detaillierten Essay verfaßt, der belegen sollte, daß die Welt, die Geschichte, Hitler hätte gesagt: Die Vorsehung, Österreich eine geradezu heilige Mission auferlegt habe, nämlich den Balkan einzusacken.
Josef Ritter von Neupauer stellte seinem Werk den Wahlspruch seines Herren voran. „Viribus unitis“, also „Mit vereinten Kräften“, war der Wappenspruch von Franz Josef I, der wohl gewußt haben mag, daß ihm sein multiethnisches Imperium um die Ohren fliegen könnte, wenn erst einmal die „Orientalische Frage“ gelöst war, wenn die Osmanen vom Balkan verdrängt wären.
In damaliger Sprachregelung war das nich „Der Balkan“, sondern die „Europäische Türkei“. Ritter von Neupauer wußte ausführlich zu argumentieren, was seinem Fürsten zu empfehlen war.
Er schrieb unmißverständlich, Österreich sei „demnach auch mehr als ein anderer civilisirter Staat in Europa berufen, sich über seine eigenen Grenzen auszudehnen (was aus nationalen Antrieben hervorgegangene Staaten nur im beschränkten Masse vermögen, daher ihnen welthistorische Missionen verschlossen sind), und das an Schätzen reiche, den nordamerikanischen Territorien verwandte Gebiet nicht nur der europäischen Türkei, sondern aller Staaten der Balkanhalbinsel in seinen Machtbereich zu ziehen.“
So in seinem 1884 in Wien erschienenen Text „Viribus unitis. Wie könnte die europäische Cultur nach Bosnien verpflanzt werden?“ Der nobilitierte Schreibtisch-Conquistador orakelte: „Es ist die grosse civilisatorische Aufgabe ins Auge zu fassen, welche die Geschichte Oesterreich gestellt zu haben scheint.“
Ja, sie scheint. Und das scheint sie auch anderen nördlichen Staatssekretariaten in deren Briefkästlein geworfen zu haben. Seither hat in dieser Sache keine Ruhe geherrscht.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Angelegenheit nicht befriedigend abzuschließen gewesen. Anfang des 21. Jahrhunderts dürfen wir einander endlich zurufen: „Mission accomplished! Die südslawischen Völker sind am Boden, der Balkan kann eingesackt werden.“
Der Ritter von Neupauer muß übrigens auch ein kleiner Spaßvogel gewesen sein, denn er gab seinem Entwurf zur Conquista in dessen wirtschaftlicher Entsprechung einen Namen für eine soziale Formation, die wir gar nicht kennen, wofür wir demnach auch kein deutsches Wort haben.
Also selbst der Firmenname „Zadruga“ war jenen entrissen, die da beraubt werden sollten; im Namen der „Kultur“. Da heißt es: „Es wird eine Actiengesellschaft mit einem Actiencapitale von 30 Millionen Gulden unter der Firma »Zadruga« mit dem Sitze in Wien gebildet“.
Man darf also ein Zyniker sein, wenn man anderen seinen Stiefel in den Nacken setzt: „Behufs Civilisirung und wirthschaftlicher Hebung des Occupationsgebietes auf der Balkanhalbinsel…“
Wenn ich in der vorigen Notiz behauptet habe, da bestünde eine direkte Verbindung zwischen dem Berliner Kongress und der Europäischen Union, eine Verbindung, welche über die Lateiner-Brücke in Sarajevo führe, wird es vermutlich einige Arbeit machen, um diese Annahme zu widerlegen. Doch falls sie bestätigt werden muß, dürfte das noch mehr Arbeit machen.