Wir besuchten den „Kopfbahnhof“ von Kathi Velik, ein Kulturprojekt in Bad Gleichenberg, per Eisenbahn. Dort wird ja am 5. Mai unser heuriges April-Festival abgeschlossen, um so unter anderem eine kleine Reise durch die Region symbolhaft zu runden: [link]
Bei der Festival-Themenstellung „Leben: Praxis der Zuversicht“, geht es unter anderem darum, Befunde über unseren Lebensraum als Ausgangspunkte zu nehmen und unsere Schlüsse darzulegen. In polemischer Verkürzung stößt man dabei heute auf zwei sehr markante Themen: Beschleunigungskult und überzogenes Konsumverhalten. Dem entgegenzuwirken setzt voraus, daß wir verstehen, wie es zu jenem Status quo gekommen ist. Dieses Verständnis soziokultueller Vorgänge quer durch das 20. Jahrhundert hat im Alltagsleben kuriose Bezugspunkte.
Gleisdorf liegt im Bereich der ÖBB. In Feldbach wechselt man, um nach Bad Gleischenberg zu kommen, auf das Terrain und den Schienenstrang der Steiermärkischen Landesbahnen. Das brachte uns in einen Triebwagen aus dem Jahr 1931, was von hohem symbolischem Gehalt ist und eine sehr greifbare historische Erfahrung bringt. Es ist ein Fahrzeug aus der Ära der „Stromlinie“, ohne selbst formal diesem radikalen kulturellen Prinzip zu entsprechen.
Das ästhetische Konzept der „Streamliner“ war wegbereitend für eine Konsumlogik und eine Beschleunigungskultur, deren teilweise höchst problematischen Auswirkungen wir bis heute am Hals haben und bearbeiten müssen. Dieser Triebwagen, mit dem wir durch die Oststeiermark fuhren, widersprach in Aufmachung und Fahrverhalten ganz umfassend genau jener Beschleunigungskultur.
Kleiner Einschub:
Um einen Eindruck zu bieten, wovon hier die Rede ist: Der Pioneer Zephyr (1934) von Burlington [link] war der erste Stromlinien-Personenzug Amerikas. Das automobile Pendant dazu war der Air Flow (1934) von Chrysler, kein Verkaufsschlager, aber wegweisende Karosseriegestaltung: [link]
Diese Fahrzeuge mögen offensichtlich und klar machen, was damals die neue HÜLLE bedeutete, welche
a) GESCHWINDIGKEIT und Fortschritt darstellen sollte, welche elegant
b) VERDECKTE, was die Maschine an Organen, Komponenten und Funktionen unter der Haut verbarg.
Das bedeutet, es etablierte sich eine Kultur der visuellen Inszenierung, die sich von den greifbaren Inhalten auch sehr unabhängig machen konnte und ein Hauptstament hatte: Ich bin schnell! Sie finden das auf abstruse Art in jener Zeit auch bald bei Staubsaugern, Waschmaschinen, Bleistiftspitzern etc., sogar an Häusern.
Wir waren nun Passagiere der früheren Verhältnisse. Das Drehgestell auf Blattfedern, der Wagenkasten auf Blattfedern, die ganze Fuhre also auf alte Art doppelt mit Stahl gefedert. So entsteht eine Gesamtsituation in Sachen Fahrkomfort aus einer Ära, in welcher Automobile für den Großteil der Menschen unerschwinglich waren. Jene Autos, die es zu der Zeit auf unseren Straßen gab, waren nur zum geringsten Teil in Privatbesitz, die meisten sind Geschäfts- oder Behördenfahrzeuge gewesen.
Die regionale Eisenbahn, wie wir sie zwischen Feldbach und Bad Gleichenberg heute noch erleben können, war damals genau so eine Sensation des individuellen Mobilitätsgewinn und könnte genau das auch wieder werden, wenn die Erhaltungskosten von Autos im heute vertrauten Maß weiter steigen.
Der elektrische Normalspur-Triebwagen generiert aus Gleichstrom (welcher in Gnas eingespeist wird) 400 PS. Eine moderne Taurus macht mit Wechselstrom fast 10.000 PS. Das als weiterer Hinweis auf die enormen Kontraste in den Fundamenten unserer Mobilitätsgeschichte.
Die verlangsamte Reise und die Sicht auf eine Landschaft vom Bahndamm aus ergibt eine völlig andere Erfahrung der Region gegenüber der flotten Fahrt mit dem Auto. Dieser Blick vom Bahndamm aus ist übrigens ein zentrales Element dieser gesamten Projektgeschichte über bald ein Jahrzehnt.
P.S.: In diesen Reflexionen liegt auch ein Querverweis zu „Gehen, reiten, fahren“ (Fahrzeug & Fetisch), ein eigener Themenabend im Rahmen des April-Festivals: [link]
[Fortsetzung folgt!]
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