Die medial bedingte Distanz läßt einen Konflikt via Web gelegentlich sehr viel schneller zur massiven Kontroverse hochgehen, als das in realer sozialer Begegnung geschehen würde. Email kann knapp gefaßt und sehr schnell losgeschickt werden. Da kommt manches dann härter rüber, als es jemand ausdrücken würde, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stünde.
Die medial bedingte Distanz blendet andere Signale aus. Falls etwa jemand einen Kopf größer und merklich wenigstens zehn Kilo schwerer ist als ich, wird mein Verhalten im Dissens-Fall vermutlich anders sein als wenn ich der größere, schwerere Kerl bin. Telepräsenz unterschlägt solche Kriterien.
Ohne ultimative Sanktionsmöglichkeit können sich Kontroversen via Internet außerdem über Jahre hinziehen. Ich erlebe das am Beispiel eines Amerikaners in Seattle und eines Österreichers in Wien. Keine Ahnung, wann deren Streit begann, es liegt viele Jahre zurück.
Die Post der beiden Streithähne bezieht per cc laufend eine mittelgroße Community ein. Der erste Jänner 2012 war damit dekoriert, daß die zwei Kontrahenten gerade wieder eine Richterin an einem Münchner Gericht bemühen: „Liebe Frau Richterin Cornelia Berger-Ulrich: Der Sippenhaftler Fxxx Kxxx, als Übernazi in Wien notorisch, ist mir mehr als 10 Jahren bekannt!…“
In den frühen Jahren der Webpräsenz waren „flamings“ keineswegs tabu und ich erinnere mich an auslandende „Email-Prügeleien“, die mit Genuß geführt wurden. Heute werden „flames“ in der Regel als die Zumutung empfunden, die sie eben sind. Eine Zeitvergeudung mit der in sich steckenden Gefahr, eine mühsam aufgebaute Online-Community in den Graben zu fahren.
Solche Gefahr kündigt sich in der Regel schon an, wenn
a) in einem Dialog merklich nicht mehr auf Argumente des Gegenübers eingegangen wird, sondern jede Antwort bloß noch als Anlaß dient, die eigenen Ansichten auszubreiten und wenn
b) plötzlich nicht mehr die Argumente einer Person angegriffen wird, sondern die Person selbst Ziel von Angriffen ist.
Sobald sich das breit macht, besteht für Moderatorinnen und Moderatoren Handlungsbedarf, sonst geht die Community den Bach runter. Ich hab in langjähriger Existenz als „Netizen“ schon allerhand Befunde zugeschickt bekommen, die nicht gerade freundlich ausgefallen sind. Darunter gelegentlich sehr irrationale Einschätzungen, die politisch wechselweise weit links UND weit rechts angesiedelt sind.
Derlei Artigkeiten fallen dann recht vollmundig aus und zeigen oft eine typische Abfolge. Zuerst wird der Verstand angefochten, dann die (mutmaßliche) Leiblichkeit herabgewürdigt, schließlich die Sexualität angegriffen; gerne auch mit politischen Zuschreibungen garniert. Einige Beispiele: „amerikageiles oststeirisches kukuruzzenschweinchen, cyberschwuchtel, Literatur-Stalinismus, medienfurzer, stalinistenfatze, stalinistischer neonaziustaschajargon, untersturmbannfuehrer, …“
Ich hab es vor Jahren einmal amüsant gefunden, die markantesten Beschimpfungen zu ordnen und zu publizieren: „PUNCH: eine kleine enzyklopädie der beschimpfungen“ [link]
Das hat zwar durchaus einen Funken Unterhaltungswert, ist aber nicht weiter fruchtbar. Unterm Strich bleibt, daß sich Menschen, die solches Verhalten pflegen, in das Leben anderer Leute hineinschrauben. Will man seine Zeit nicht vergeuden, hilft nur Distanz. Diese Zusammenhänge haben allerdings noch eine ganz andere Dimension. Propaganda, Desinformation, Diskreditierung des Gegenübers, das sind Waffen, die von Nationen angewendet werden, um in Konflikten mit anderen Nationen Vorteile zu gewinnen.
Das hat mich zuletzt im Jahr 2008 eingehender beschäftigt, als Georgiens Präsident auf Südossetien schießen ließ. In meinem Logbuch zitierte ich damals PR-Fachmann Dietmar Ecker „Nun liefern sich die Gegner mit Hilfe von PR-Agenturen wilde Gefechte um den moralischen Triumph“. [Quelle]
Es gibt also in solchen Fällen nicht nur Kämpfe vor Ort, sondern auch einen Kampf um das eigene Image in der medial generierten Weltöffentlichkeit: „Gleichzeitig versorgte die in Brüssel angesiedelte PR-Agentur aspect communications, die seit November 2007 für die georgische Regierung tätig ist, die Medien im Minutentakt mit praktischerweise gleich auf Englisch verfassten Aussendungen – während die Herren im Kreml vier Tage brauchten, bis sie sich zu einem Interview mit CNN herabließen.“ [Quelle: profil]
Die zwei Ebenen eines Kampfes, „Realraum“ und mediengestützte „Realität“, kommen in folgendem Zitat aus dem genannten Beitrag klar zum Ausdruck: „Am Boden mag Russland gewonnen haben. Im Duell um den moralischen Sieg hat bislang hingegen Georgien die Oberhand behalten. Nicht zuletzt dank der Arbeit von Beratern wie Worms, die zu einem Gutteil darin besteht, die Informationen der jeweils anderen Konfliktpartei als Propaganda zu entlarven.“
Das spielte natürlich auch in den jugoslawischen Kriegen der 1990er-Jahre eine erhebliche Rolle. In diesem Zusammenhang darf wohl das Erscheinen der kuriosen Trittbrettfahrer auf unserer Website gesehen werden. Dieser Zusammenhang erklärt zum Teil, warum da eine Debatte mit mir SIMULIERT wurde, um im Kielwasser dieser Scheinkommunikation Texte zu publizieren, die eines der heikelsten Themen der jüngeren Vergangenheit betreffen, den Bosnien-Krieg mit seinem grausamen Höhepunkt, den Massakern von Srebrenica, die unbestreitbar von einer serbischen Soldateska und Einheiten einer serbischen Sonderpolizei begangen wurden. (Fortsetzung folgt!)
[šok alijansa / notes #2: überblick]
[NETZKULTUR: der überblick]