streitkultur oder kulturstreit?

es herrscht quer durchs land viel dissens. genügt es nun, auf der straße präsent zu sein? ist offener protest als ausdruck von empörung ein hinreichendes mittel, um dem politischen personal des landes etwas auszurichten? wird im landhaus oder in der burg darauf reagiert, wenn sich hunderte oder gar tausende menschen auf der straße einfinden, um ihre forderungen laut vorzubringen?

landtagsabgeordnete ingrid lechner-sonnek

ich hab eine landespolitikerin gefragt, was ihr eindruck bezüglich dieser option sei. ingrid lechner-sonnek bestätigt klar, daß solche ereignisse nicht ignoriert werden. das öffentliche protestverhalten selbst und auch dessen mediale auswirkungen lösen in politischen kreisen reaktionen aus.

es sei überdies evident, daß am budget, dem anlaß für diese proteste, im letzten moment noch einige millionen euro in bewegung gebracht werden konnten, was ohne die rund fünftausend menschen auf der straße sicher nicht geschehen wäre.

das ist also die eine ebene des geschehens. da wird es interessant sein, erstens zu erfahren, wie praktikabel und prolongierbar diese präsenz und dieses ensemble von aktionsformen sind, um – zweitens – damit auf den lauf der politik einzuwirken.

mich interessiert freilich auch sehr, welche positionen und welche sozial- wie kulturpolitischen grundlagen heute zur debatte stehen. damit meine ich: mit WEM konkret kann ich WAS konkret verhandeln? auf welchen BEFUND des status quo stützt sich dieses verhandeln? in diesen fragen finde ich sehr unterschiedliche auffassungen vor.

so habe ich etwa das problem, im kulturförderungsgesetz des landes passagen zu finden, welche ich als kunstschaffender begrüße, weil sie mir akzeptable grundlagen für meine arbeit anbieten. aber ich finde diesbezüglich weder in politik und verwaltung angemessene sachkenntnis und bereitschaft, diesen gesetzlichen grundlagen nachzukommen, noch in meinem eigenen milieu einen ausreichend entwickelten stand des diskurses solcher zusammenhänge.

daraus muß ich – polemisch verkürzt – schließen: bei der bloßen entscheidung, die eigene empörung in einer straßenaktion umzusetzen, würden einander voraussichtlich leute aus a) der zivilgesellschaft und b) politik & verwaltung gegenüberstehen, die dem thema kaum gewachsen sind und keine klare vorstellung haben, welche strategien mit welchen zielen zu suchen wären. es bliebe also hauptsächlich, einander anzubrüllen.

ich kontstatiere das im KULTURbereich. den SOZIALbereich betreffend bin ich nicht ausreichend sachkundig, um den stand der dinge zu beurteilen. aber ich frage gerne leute, die das sind.

politikerin ingrid lechner-sonnek hat diese kompetenzen fraglos. franz wolfmayr hat sie ebenso. er ist präsident des EASPD, das ist der „europäische dachverband von dienstleistungsanbietern für personen mit behinderung“.

franz wolfmayr ist im dachverband der steirischen behindertenhilfe und auf europäischer ebene aktiv

ich habe mit wolfmayr gerade einen abend lang debattiert, wo wir in diesen angelegenheiten stehen und womit genau wir es zu tun haben. als eines der größten probleme weist wolfmayr den verlust jeglicher paktfähigkeit maßgeblicher politiker aus. das bedeutet, man könne sich auf getroffene abmachungen nicht verlassen und müsse sogar hinnehmen, daß eine gebrochene vereinbarung von der politik medial als erfolgreicher konsens gefeiert werde.

das ist zugleich schon eines der brutalsten symptome meines momentan bevozugten befundes, dem wolfmayr zustimmt. es geht mir um die „auseinandergebrochenen sphären“.

wir sollten eigentlich politik und zivilgesellschaft als zwei sphären eines größeren ganzen verstehen und erleben können. zwei sphären, die einander wechselseitig bedingen und daher nicht getrennt werden könn(t)en. das wird in unserer kultur übrigens allein schon das wort ausgedrückt, weil sich der terminus POLITIK von ZWEI begriffen herleitet, der POLITIKÉ und der POLIS. die „staatskunst“ und das „gemeinwesen“, also in heutiger deutung: politik und zivilgesellschaft. erst in ihrem zusammenwirken ergeben sie das, was wir POLITIK nennen, wenn wir damit NICHT parteipolitik meinen. jedes für sich, ohne das andere, ist in unserer derzeitigen auffasung von demokratie eigentlich weder vorstellbar noch zulässig.

nun erleben wir, daß diese beiden sphären faktisch auseinandergefallen sind. dazu kommt verschärfend, daß auch die kommunikation zwischen diesen beiden ebreichen weitgehend abgebrochen ist, was sich unter anderem genau darin zeigt, daß eine wechselseitige verpflichung offenbar nicht mehr wahrgenommen wird. das äußert sich zum beispiel in eben diesem entfallen von paktfähigkeit. (das ist eine brandgefährliche situation!)

nun haben die leute im sozialbereich vor allem damit viel erfahrung, denn das ringen um eine menschwürdige situation für behinderte handelt im kern seit wenigstens 30 jahren genau davon: FÜR jene, die nicht sprechen können bzw. nicht gehört werden, einzufordern und durchzusetzen, daß die „andere seite“ sich ihnen gegenüber klar verpflichtet und sie in dieser vereinbarung nicht im stich läßt. das ist, soweit ich es als zaungast miterlebt habe, die essenz jener entwicklungen, die im rückblick als „steirische integrationsbewegung“ darstellbar sind.

kleiner einschub:
wie kurios! genau DAS war für mich über jahrzehnte die vorherrschende konnotation des begriffes INTEGRATION, daß behinderte und nichtbehinderte die gleichen lebensräume bevölkern sollen und nicht ein teil in nischen bzw. reservate entsorgt wird. heute ist das wort integration mit völlig anderen assoziationen verknüpft.

egal, ob wir uns nun einem teilbereich wie „behinderte“ oder „kunstschaffende“ zurechnen, beide von sozialer marginalisierung geprägt, ob wir das feld der gesamten zivilgesellschaft ins auge fassen, es stellen sich einerseits fragen nach dem „WIR“, worauf es sich stützt und wie es zustandekommt, es stellen sich aber auch fragen für die einzelne person:
+) bin ich sichtbar?
+) werde ich gehört?
+) werde ich verstanden?

das ist einer der aspekten, den wir erörtert haben. gelingt es uns, eine art grundanforderung zu erkennen, die letztlich ALLE gemeinsam haben, egal welcher „peer group“ sie sich zurechnen? dem folgt dann die überlegung, welche kulturelle und mediale ausstattung uns nützt, auf diese fragen befriedigende antworten zu erleben.

— [kunst.rasen: assistenz] —

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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