was ist kunst? #11

das kommt kaum vor: „es gefällt mir, aber ich verstehe nichts von kunst.“ das kommt häufig vor: „es gefällt mir NICHT, aber ich verstehe nichts von kunst.“ so oder so, jeder der sätze birgt einen wesentlichen hinweis.

wir haben es gewöhnlich mit zwei möglichen zugängen zu tun, die auch mischformen erlauben. ich erfahre kunstwerke
a) über das reich der sinnlichkeit („es gefällt mir/gefällt mir nicht“) und
b) über die regeln der kunst („ich verstehe etwas/nichts von kunst“).

sinnliche wahrnehmung wurde im antiken griechenland „aisthesis“ genannt, also ästhetik. das ist wohl die „hauptabteilung“ der „geschmacksbildung“. freilich wird seit wenigstens zweitausendfünfhundert jahren gestritten, was denn nun „guter“ und was „schlechter“ geschmack sei, ob der „erlesene geschmack“ von „kennern“ oder der breite „massengeschmack“ mehr gewicht habe.

kitsch oder kunst? (nikola macura mit transparenter hasen-maske bei nikola dzafos vernissage zu "lepus in fabula")

sie ahnen sicher, dieses match ist seit jahrtausenden unentschieden. ich seh die frage so gelöst, daß es keine lösung gibt und daß vermutlich auch weiterhin einzelne leute, denen das gefällt, was sich als „den massen geläufig“ bewährt, mit inbrunst die „expertinnen und experten“ verachten werden, während personen, die sich „erlesenen geschmack“ angeeignet haben, dem „massengeschmack“ oft eher abschätzig gegenüberstehen.

ich mußte hier eine menge an- und abführungszeichen verwenden, weil da lauter begriffe stehen, deren inhalt und deutung keineswegs klar und unbestritten ist. ich möchte das positiv bewertet wissen. wir betreten in diesen fragen die wunderbaren welten des kontrastes, der uneindeutigkeiten und der widersprüche.

es ist eine phantastische fähigkeit der menschen, mit widersprüchen und zwischentönen leben zu können, das dann auch gelegentlich zu genießen. ganz offensichtlich wohnt die „wahrheit“ nicht dort, wo man alle widersprüche eliminiert. anscheinend ist eine art „wahrhaftigkeit“ genau in dieser oft verwirrenden pluralität zu finden.

die kunst ist nicht das einzige thema unserer spezies, bei dem solche zustände als vorzüge gewertet werden können. doch sie ist sicher eines der radikalsten beziehungs- und bedeutungsgeflechte, in dem OHNE solche fähigkeiten, derlei kontrasten etwas abzugewinnen, eigentlich fast gar nichts geht. (naja, „malen nach zahlen“ geht immer, aber das wär’s dann schon …)

ohne kontext geht's oft schwer ... (nikola dzafos "hasen-horde" im "museum für zeitgenössische kunst", novi sad)

als kleiner querverweis: in den kulinarischen welten kennen wir das ja auch; wie kühn man in einem bestimmten moment sein muß, um sich eine neue geschmackswelt zu erschließen. und daß es manchmal zeit plus praktische erfahrungen braucht, um geschmacksmischungen lieben zu lernen, deren schilderung einen vielleicht anfangs eher abgeschreckt hätte. (wie viele jahre mußten vergehen, daß ich jenen weißburgunder schätzen konnte, ohne den ich heute auf die welt des weines gut verzichten könnte?)

zurück zum eigentlich kern der geschichte, nämlich zur frage nach den erfahrungsprozessen, denen sich jemand aussetzen möchte; oder auch nicht. es ist müßig, sich über „massengeschmack“ zu alterieren, zumal „die masse“ ohnehin mehr ein denkmodell als eine klar faßbare kategorie ist. aber auch, weil eben diese masse sich ja erfahrungsgemäß recht wenig darum schert, was eine minorität über sie denkt. (außerdem finde ich in der „massenkultur“ eine ganze reihe sehr reizvoller momente und artefakte.)

ganz anders erscheint es mir mit der verächtlichkeit, zu der sich flaneure vom „massen-feld“ und vom boulevard her immer wieder lauthals aufraffen, wenn ihnen danach ist, einzelne liebhaber, erxpertinnen, suchende auf dem kunstfeld zu diffamieren. da habe ich selbst eine niedere reizschwelle und bin recht streitlustig. grade die kunst scheint schnösel und parvenüs anzuziehen, um sich daran abzuarbeiten.

die tollsten schätzchen sind darunter jene, deren ganzer status merklich boulevard-format hat, die sich — mit diesen dünnen hemdchen ausgestattet — auf das kunstfeld drängen und dort kunstversessene, wo es zu friktionen kommt, desavouieren, als „elitär“ anfeinden und dabei anti-intellektuelle attitüden durchspielen, daß sich die balken biegen.

in diesen dümmlichen tänzchen liegt wenigstens etwas interessantes, nämlich ein verkappter hinweis darauf, daß selbst der schnösel in der kunst etwas von belang vermutet, denn warum sollte er sich sonst bemühen, auf diesem terrain zu reüssieren. und das könnte uns sogar verbinden. vielleicht liegt darin einer der reizvollsten kontraste auf den nebenschauplätzen der kunst. vielleicht ist ja genau dort letztlich auch neuer boden für die kunst zu gewinnen. wer weiß?

[überblick]

p.s.:
wie lange wird all das schon kontroversiell debattiert? im 16. jahrhundert schuf giorgio varasi ein text-oeuvre, das ihm den ruf des ersten kunsthistorikers unserer geschichte einbrachte. als hofmaler und architekt war er (unter anderem) im gleichen metier versiert wie der architekt vitruvius, dessen schriftlich überlieferte architektur-theorie aus dem ersten vorchristlichen jahrhundert heute sicher auch als ein stück kunst-theorie gelten darf. kritische erörterungen verschiedener fragen der kunst finden sich freilich schon in der griechischen antike.

Über der krusche

jahrgang 56, freischaffend
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