in seinem opulenten werk „die geschichte der kunst“ hat ernst w. gombrich deutlich gemacht, daß es keinen kunstbegriff gibt, der durch die zeiten gültigkeit habe. wir müssen laufend neu klären, was wir mit dem begriff „kunst“ meinen.
die grazer philosophin elisabeth list sagte kürzlich in ihrer rede „Zur Eröffnung der Ausstellung ‚Philosophinnen – Liebhaberinnen der Weisheit’“ zu fragen der definitionshoheit: „Bedeutungen fallen nicht vom Himmel, sondern werden festgelegt, werden gemacht, hergestellt. Und hinter der Festlegung von Bedeutungen steht ein bestimmtes Interesse, eine bestimmte Macht.“ [quelle]
an anderer stelle sagte list: „Ich wiederhole, was Judith Butler sagt: Ohne Begründungen können wird nicht Handeln und Denken. Aber sie sind nichts Ewiges, Absolutes, sie beruhen auf kontigenten Grundlagen, und sehr oft auf politischen, und dessen muss man sich bewusst sein.“
gombrichs hauptwerk erschien erstmals 1950. damals fehlte noch die erfahrung der „pop-kultur“. meine spätere ausgabe ist um das kapitel „eine endlose geschichte“ erweitert. es trägt den untertitel „der triumph der moderne“. gegen ende des buches findet man den satz „unsere kenntnis der geschichte ist immer unvollständig“. so verhält es sich auch mit der kunst ganz generell.
es ist eine markante erfahrung, das GANZE in der unvollständigkeit von kenntnis zu erfahren. ein erheblicher kontrast zu jener zielstrebigkeit und lösungs-orientierung, mit der wir in der alltagsbewältigung klare ergebnisse suchen. gombrich drückt meines erachtens in jener passage keinen mangel aus, sondern – ganz im gegenteil – den zugang zu einer grenzenlosen fülle als einer besonderen qualität menschlicher kultur. das ausmaß dieser fülle beweist sich gewissermaßen in der stets unvollständigen kenntnis einzelner personen.
elisabeth list kritisiert den „für die Philosophie lange Zeit charakteristische Anspruch, die Welt und ihre Erkenntnis umfassend, vollständig zu erklären, ein Anspruch, der etwas mit einem männlichen Habitus zu tun hat: Der Anspruch, im Gebrauch der Vernunft eine Souveränität zu besitzen, die alles erklärt, alles, was es gibt intellektuell zu unterwerfen. Heute wissen Philosophen, dass sich dieser Anspruch nicht einlösen lässt.“
der vorwurf zielt auf einen herrschaftsanspruch, auf den griff nach definitionsmacht. kunstpraxis, wie ich sie kenne, handelt von einer prinzipiellen skepsis gegenüber solchen macht-optionen.unser wissen ist begrenzt, die kunst ist es nicht. dieses grenzenlose, die kunst, spottet letztlich jeder anmaßung und generell der tyrannis.
freilich gibt es genug beispiele, daß sich einzelne kunstschaffende der tyrannis angedient haben. gombrich hielt im mai 1992 einen vortrag im wiener rathaus. diesen vortrag schloß er mit einer kleinen referenz an seinen lehrer, den kunsthistoriker hans tietze. er zitierte ihn: „Und lassen Sie sich nichts verbieten!“ gombrich war der ansicht, daß „künstler und kenner aus begreiflichen gründen zur intoleranz“ neigen. ich teile diese einschätzung und diese emotion.
daraus leitet sich einmal mehr die disposition zu widersprüchlichen, uneindeutigen situationen ab. ich hab hier behauptet, die kunst vertrage sich nicht mit der tyrannis. und ich stimme zu, sie sei jedoch ihrerseits anlaß für einen zug zur intoleranz. wie geht das? ich lebe es schon lange, aber ich kann es ihnen eigentlich nicht erklären. erinnern sie sich an eintrag #2! da habe ich die übung des „koan“ erwähnt. wir haben eben auch in unserer kultur momente, die sich nicht über erklärungen, sondern nur über praxis erfahren lassen.